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Eine digitale Literaturzeitschrift – unbedingt!

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Wolfram Schüttes Plädoyer für eine digitale Literaturzeitschrift im Perlentaucher ist eine Inspiration! Seiner Aufforderung zum Mitdenken und Mitträumen komme ich gerne nach. Mir gefällt die Charakterisierung des Online-Literaturmagazins als

ein sich selbst regelmäßig journalistisch regenerierender Ort literarischen Lebens, der zentrale Umschlagbahnhof für alle literarischen Waren.

 

Entscheidend für den Erfolg eines solchen Projekts scheinen mir zwei Dinge:

  1. Erneuerung der Literaturkritik
  2. Neugier auf und Hingabe an das digitale Medium, das „Neue Spiel“ (so ein Buchtitel von Michael Seemann)

 

Erneuerung der Literaturkritik

Wolfram Schütte schreibt vom Bedeutungsverlust der Kritik. Diese Erosion ist m. E. keine Folge der Medienkrise, sondern ein inhaltliches Problem: Die Literaturkritik krankt daran, dass viele Kritiker besser schreiben als lesen. Was leistet ein Text literarisch? Stellt ein Autor mit der Sprache etwas an, was vor ihm keiner getan hat? Hören wir hier ein eigene Stimme? Diese Fragen werden in vielen Rezensionen nicht einmal gestellt.

Vor ein paar Jahren habe ich für mein Literaturkritik-Seminar an der FU die Messebeilagen der Qualitätspresse durchgesehen, weil ich für die Studenten Beispiele von Sprachkritik und transparentem literarischem Urteil suchte. Ach, es war die Stunde der braven, nacherzählenden Rezension, gern mit empfehlendem Charakter. „Magie der Worte“, „brillant erzählt“ – mehr fiel kaum jemandem zur Machart literarischer Texte ein.

Es gibt eine lähmende Scheu vor angriffiger Kritik. Das ist nicht (nur) Charakterschwäche. Es liegt auch am Betrieb, der dafür sorgt, dass sich Kritiker und Autoren ständig über den Weg laufen. Die Begegnung mit einem Autor, den man verrissen hat, ist unangenehm, für beide Seiten. Als MRR seinen Freund Heinrich Böll verrissen hatte, flüsterte ihm dieser beim nächsten Zusammentreffen ins Ohr: „Du Arschloch!“, gab ihm die Hand und sagte: „Jetzt können wir wieder miteinander reden.“ Das hatte Stil. Heute könnte ich mir eine solche Szene bei niemandem vorstellen.

Ein digitales Literaturmagazin müsste über seine Maßstäbe reden, über Kriterien. Hier ein paar Anregungen von Autoren:

Kritik: das absolute Gehör für Zukunft (Marina Zwetajewa)

 

He must have standards – that’s very important. He must be extremely well read. He must know an author’s work that he’s reviewing. (William Gaddis)

 

Lassen Sie uns dann also streng sein in unseren Urteilen; vergleichen wir jedes Buch mit den größten seiner Art (…); selbst der neueste und geringste Roman hat das Recht, an den besten gemessen zu werden. (Virginia Woolf)

 

 

Das Neue Spiel

Ich wundere mich, wie zögerlich die Qualitätsmedien sich auf die Möglichkeiten und Chancen des Internet einlassen. Unter den Meinungsführern der Literaturkritik ist kaum jemand auf Twitter oder Facebook aktiv, nur wenige haben eine Website. Im Leben hat man zwei Möglichkeiten: Man kann sich schützen, oder man kann lernen. Viele Redaktionen verharren im Modus des Sich-Schützens. Ein unabhängiges Literaturmagazin könnte uns daraus befreien.

Das Neue Spiel besteht in hohem Maß in neuen Formen der Kommunikation. Wir befinden uns in einem Netzwerk, damit werden Hierarchien hinfällig. Plattformen übernehmen die Funktion von „Marken“. Das digitale Literaturmagazin versteht sich als Plattform für alle Beteiligten an der Literatur: Autoren, Leser, Kritiker.

Wolfram Schütte schreibt:

Es geht doch darum, mit ihren Käufer/Lesern in einen kontinuierlichen Kontakt zu kommen & ihn womöglich zu entwickeln & auszubauen,

und:

Die Besucher & Nutzer von Fahrenheit 451 sollten als fester Club angesehen, angesprochen werden. Die Exklusivität gehört durchaus dazu. Keine Angst vor dem sogenannt „Elitären“.

Diese Formulierung würde ich gern folgendermaßen weiterdenken: Ein digitales Literaturmagazin versteht sich als Gastgeber für Texte und Gespräche. Die Redaktion lädt geistreiche, aufregende, belesene Autorinnen und Autoren ein, sie setzt Themen, regt zu Diskussionen an. Die Besucher/Gäste wissen sich in guter Gesellschaft: Sie langweilen sich nicht, und sie sind danach klüger als zuvor. Und: Die Kritikerinnern und Kritiker sind haftbar für ihr Urteil.

Wobei mir unwohl ist: bei der Vorstellung des erträumten Literaturmagazins als

digitales Imitat des einstigen Printprodukts.

Wozu ein Imitat, wenn man etwas Neues erfinden kann? Die Redaktion ist nicht allein. Das Neue Spiel bezieht seine Energie aus dem Kontakt mit den Lesern, ihren Kommentaren und Ideen, ihren Bedürfnissen, ihrer Neugier. Dazu ist es nötig, über den belletristischen Tellerrand hinauszusehen und zu Büchern zu greifen wie Jeff Jarvis‘ „What Would Google Do“ oder Peter Thiels „Zero to One“.

Thinking differently is the key product and skill of the Google age. (Jeff Jarvis)

 

Womit ich beim letzten, schwierigsten Punkt wäre: der Finanzierung.

Die Gratiskultur hat sich im Internet durchgesetzt – nicht nur weil die Leute nichts bezahlen wollen, sondern auch weil es dem Charakter des Netzes entspricht. Eine Paywall erstickt das Netz-Gespräch, das fluide Teilen und Geteiltwerden, das virale Wachstum. Wenn unser erträumtes Literaturmagazin relevant werden soll, müssten wir andere Modelle erproben: Mäzenatentum, Stiftungen, Genossenschaft, Crowdfunding, whatever.

Die Seite brainpickings.org zeigt, wie es gehen könnte: Eine One-Woman-Show auf höchstem Niveau, geführt von Maria Popova, die von ihrem Literaturblog leben kann (Spenden plus affiliated Links).

Warum sollte uns das nicht auch gelingen?

Der Beitrag Eine digitale Literaturzeitschrift – unbedingt! erschien zuerst auf Sieglinde Geisel.


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